Jugendstrafrecht: „Erziehung statt Strafe“ in der Praxis

Jugendstrafrecht: Wie funktioniert der Grundsatz „Erziehung statt Strafe“ in der Praxis?

Zielsetzung des Jugendstrafrechts: Entwicklung fördern, Rückfall verhindern

Das deutsche Jugendstrafrecht verfolgt einen grundlegend anderen Ansatz als das Erwachsenenstrafrecht. Sein zentrales Prinzip ist nicht die reine Bestrafung, sondern die individuelle Unterstützung und Förderung junger Menschen. Laut § 2 Abs. 1 des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) besteht der Zweck darin, auf den Täter einzuwirken, um zukünftige Straftaten zu verhindern. Das Gesetz zielt darauf ab, Jugendliche nicht zu brechen, sondern ihnen bei ihrer positiven Entwicklung und gesellschaftlichen Integration zu helfen. Das oberste Ziel ist es, Rückfälle zu vermeiden und den Jugendlichen neue Lebenschancen zu eröffnen.


Sanktionen im Jugendstrafrecht: Maßgeschneidert statt pauschal

Das Gesetz bietet eine Reihe von Maßnahmen, die auf die Person und die Lebenssituation des Jugendlichen zugeschnitten sind.

a) Erziehungsmaßregeln (§§ 9 ff. JGG)

Diese Maßnahmen setzen direkt bei der Lebenssituation des Jugendlichen an. Dazu gehören:

  • Weisungen, wie zum Beispiel die Anordnung eines regelmäßigen Schulbesuchs oder die Teilnahme an einer Therapie oder Sportgruppe.
  • Hilfe zur Erziehung, beispielsweise in Form von betreutem Wohnen.
  • Sozialstunden, auch als „Arbeitsauflage“ bekannt.

Beispiel 1: Ein 15-jähriger Ersttäter wird beim Ladendiebstahl ertappt. Die Jugendgerichtshilfe schlägt ein Anti-Aggressions-Training sowie Sozialstunden vor, um sein Problembewusstsein zu schärfen. Das Ziel ist, den Jugendlichen mit den Konsequenzen seines Handelns zu konfrontieren und seine Alltagskompetenzen zu stärken, ohne ihn durch eine formelle Strafe zu stigmatisieren.

Beispiel 2: Eine 16-Jährige wird wegen Körperverletzung angeklagt, wirkt schulmüde und hat häufig Streit zu Hause. Das Gericht verurteilt sie zur Teilnahme an einem dreimonatigen Schulcoaching und einem Sozialprojekt. Im Ergebnis zeigt sich eine deutliche Verbesserung ihres Sozialverhaltens, und es kommt zu keiner Wiederholungstat.

b) Zuchtmittel (§§ 13 ff. JGG)

Zuchtmittel dienen einer spürbaren, aber zeitlich begrenzten Einwirkung auf den Jugendlichen. Mögliche Zuchtmittel sind:

  • Verwarnung.
  • Auflagen, wie eine Entschuldigung beim Opfer, die Teilnahme an einem Täter-Opfer-Ausgleich oder die Leistung von Schadensersatz.
  • Jugendarrest.

Beispiel: Ein 17-Jähriger zerstört aus Übermut den Briefkasten seiner Nachbarn. Nach einem Gespräch mit dem Jugendrichter und einer persönlichen Entschuldigung ersetzt er den Schaden auf eigene Kosten. Daraufhin wird das Verfahren eingestellt.

Der Jugendarrest ist das schärfste Zuchtmittel und kann als Freizeitarrest (ein Wochenende) oder Dauerarrest (bis zu vier Wochen) verhängt werden. Er soll dem Jugendlichen einen „reizfreien Raum“ bieten, um über seine Zukunft nachzudenken und dient als Warnung vor einer Jugendstrafe.

c) Jugendstrafe (Freiheitsstrafe, §§ 17 ff. JGG)

Die Verhängung einer Jugendstrafe ist die Ultima Ratio und nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Sie kommt in Betracht, wenn andere Maßnahmen nicht ausreichen, weil „schädliche Neigungen“ (z. B. wiederholte Gewaltkriminalität) vorliegen oder die Schuld besonders schwer wiegt, wie bei Tötungsdelikten oder schweren Sexualdelikten. Auch hier muss der Erziehungsgedanke stets berücksichtigt werden. Insbesondere wird geprüft, ob eine Jugendstrafe von bis zu zwei Jahren zur Bewährung ausgesetzt werden kann.

Beispiel: Ein 17-Jähriger begeht einen schweren Raub mit schwerer Verletzung des Opfers. Trotz eines bisher unauffälligen Lebenslaufs sahen die Richter die „außerordentliche Schwere der Schuld“ gemäß § 17 Abs. 2 JGG als Grund für eine Jugendstrafe an. In diesem Fall wurde die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt.


Aktuelle Rechtsprechung und Entwicklungen

Feinabstimmung statt Automatismus

Die Rechtsprechung betont, dass Sanktionen immer auf den Einzelfall abgestimmt sein müssen.

Keine „Automatiksanktionen“

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat klargestellt, dass Gerichte eine Jugendstrafe niemals mechanisch verhängen dürfen. Selbst bei schweren Delikten muss geprüft werden, ob die Tat aus jugendtypischer Unreife, Gruppendruck, einer emotionalen Krise oder „Draufgängertum“ begangen wurde.

Beispiel aus der Praxis: Zwei 15-Jährige randalieren betrunken im Stadtpark. Der BGH entschied, dass die Tat zwar strafwürdig, aber auch klar jugendtypisch sei, weshalb individuelle Erziehungsauflagen ausreichen und keine Jugendstrafe verhängt werden müsse.

Bedeutung der Persönlichkeit und Lebensumstände

Im Fokus der richterlichen Entscheidung steht immer das Gesamtbild des Jugendlichen, einschließlich schulischer und beruflicher Perspektiven, des familiären Rückhalts und des Umgangs mit Konflikten. Das Jugendstrafrecht kann auch auf Heranwachsende angewendet werden, wenn ein 18-Jähriger bei der Tat „noch jugendlich geprägt“ war.

Reformen und aktuelle Entwicklungen

Eine Reform im Jahr 2025 hat die Rolle der Jugendgerichtshilfe gestärkt und ermöglicht flexiblere Kombinationen von Hilfs- und Sanktionsmaßnahmen. Die Kooperation zwischen Justiz und Jugendhilfe wurde verbindlicher gestaltet, um Interventionen passgenau zuzuschneiden und keinen Jugendlichen aufzugeben.

Beispiel für reformierte Praxis: Ein 17-jähriger Intensivtäter wird nach wiederholten Diebstählen und Gewaltdelikten in ein „sozialpädagogisches Intensivprogramm“ aufgenommen. Dieses Programm beinhaltet engmaschige Betreuung, Schulbegleitung und Sozialarbeit. Das Gericht koppelt die Teilnahme an eine zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe.


Was Jugendliche und Eltern wissen müssen

1. Grundprinzip: Hilfe statt Härte

Es ist wichtig zu verstehen, dass das Gericht nach Wegen sucht, wie Ihr Kind Probleme bewältigen und positive Perspektiven entwickeln kann. Täter werden nicht automatisch inhaftiert; viel hängt von der Einsicht des Jugendlichen und der Kooperation des Umfelds ab.

2. Was erwartet mein Kind nach einer Straftat?

Nach einer Anzeige wird die Jugendgerichtshilfe aktiv. Sie führt Gespräche mit dem Kind, den Eltern und gegebenenfalls der Schule und erstellt einen Bericht für das Gericht. Das Verfahren kann oft eingestellt werden, wenn das Kind einsichtig ist und Bereitschaft zur Teilnahme an Hilfsmaßnahmen zeigt.

3. Der Gerichtstermin

In der Gerichtsverhandlung geht es weniger um die Schuldfrage als darum, das gesamte Lebensumfeld des Kindes zu verstehen.

Beispiel: Ein 15-Jähriger stiehlt mit Freunden Kopfhörer. Im Gespräch stellt sich heraus, dass er in der Schule gemobbt wird. Das Gericht ordnet die Teilnahme an einem Sozialtraining und Gespräche mit einem Schulsozialarbeiter an.

4. Wie Eltern aktiv unterstützen können

Eltern sollten:

  • Ihr Kind zu Beratungsgesprächen und Gerichtsterminen begleiten.
  • Offen über Probleme in Familie, Schule oder Freundeskreis sprechen.
  • Hilfsangebote wie Schulsozialarbeit oder Familientherapie annehmen.
  • Dem Gericht ein ehrliches Bild vom Alltag und den Herausforderungen vermitteln. Ein solches Bild ist auch dann hilfreich, wenn die Umstände schwierig sind.

Die Bereitschaft der Eltern zur Kooperation wird von den Gerichten sehr geschätzt. Ein Jugendrichter rät:

„Eltern, die zeigen, dass sie ihr Kind begleiten, die Probleme kennen und gemeinsam nach Lösungen suchen, stärken die Erfolgsaussicht jeder Maßnahme erheblich“.


Eltern-Checkliste: Was tun nach einer Straftat?

  1. Ruhe bewahren und das Gespräch suchen.
  2. Hilfen annehmen: Dazu gehören Sozialberatung, Schulsozialarbeit, Erziehungsberatung oder Drogenberatung.
  3. Kind zur Verantwortungsübernahme ermutigen: Sich zu stellen ist der erste Schritt zur Besserung.
  4. Alles für eine straffreie Zukunft tun: Unterstützung ist erwünscht und zeigt oft Wirkung.
  5. Frühzeitig rechtlichen Rat einholen: Ein auf Jugendstrafrecht spezialisierter Fachanwalt für Strafrecht kann Sie und Ihr Kind erfolgreich durch das Verfahren begleiten.

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Die Bedeutung des Jugendstrafrechts

Warum Jugendliche nicht wie Erwachsene behandelt werden sollten – Die Bedeutung des Jugendstrafrechts

Jugendliche begehen Straftaten – und die Gesellschaft ruft nach harten Strafen. Doch ist das wirklich sinnvoll? Warum gilt für Jugendliche ein eigenes Strafrecht? Und warum schützt das Jugendstrafrecht nicht nur die Täter, sondern auch die Gesellschaft? Als Fachanwältin für Strafrecht möchte ich in diesem Beitrag zeigen, warum es richtig – und wichtig – ist, Jugendliche nicht wie Erwachsene zu behandeln.

Jugendstrafrecht verfolgt andere Ziele als das Erwachsenenstrafrecht

Während im Erwachsenenstrafrecht vor allem Sühne und Abschreckung im Vordergrund stehen, geht es im Jugendstrafrecht primär um Erziehung und Prävention. Jugendliche sollen durch die Strafe lernen – nicht gebrochen werden.

Das Jugendgerichtsgesetz (JGG) orientiert sich dabei am Gedanken der Resozialisierung. Es berücksichtigt die besondere Lebenssituation und Entwicklungsphase junger Menschen. Wer noch nicht ausgereift ist, soll nicht wie jemand behandelt werden, der voll verantwortlich handelt.

Jugendliche denken, fühlen und handeln anders

Neurowissenschaftliche Studien belegen: Das menschliche Gehirn – insbesondere der präfrontale Cortex, zuständig für Impulskontrolle und Weitsicht – ist oft erst mit Mitte 20 vollständig entwickelt.
Jugendliche handeln häufiger spontan, emotional und unter Gruppendruck. Sie lassen sich leichter beeinflussen und haben ein anderes Risikobewusstsein als Erwachsene. Genau deshalb braucht es angepasste strafrechtliche Reaktionen.

Härtere Strafen bedeuten nicht automatisch mehr Sicherheit

Ein verbreiteter Irrglaube ist: Härtere Strafen verhindern Straftaten. Tatsächlich zeigen Studien, dass pädagogisch orientierte Maßnahmen – wie Sozialstunden, Anti-Gewalt-Trainings oder Täter-Opfer-Ausgleich – nachhaltiger wirken als bloße Strafen.

Jugendstrafrecht will nicht verharmlosen, sondern vorbeugen. Und zwar durch individuell angepasste Maßnahmen, die Rückfälle verhindern und die Jugendlichen wieder auf einen positiven Weg bringen.

Das Gesetz differenziert bewusst zwischen Alter und Reife

Das deutsche Strafrecht kennt klare Altersstufen:

  • Unter 14 Jahren: strafunmündig – keine strafrechtliche Verantwortung
  • 14–17 Jahre: Jugendliche – es gilt zwingend das Jugendstrafrecht
  • 18–20 Jahre: Heranwachsende – je nach Reifegrad kann Jugendstrafrecht angewendet werden
  • Ab 21 Jahren: Anwendung des Erwachsenenstrafrechts

Das Gericht prüft bei Heranwachsenden genau, ob jugendtypische Umstände oder Reifeverzögerungen vorliegen – ein wichtiger Schutzmechanismus gegen unangemessen harte Bestrafung.
Das Jugendstrafrecht ist kein „Kuschelkurs“, sondern ein durchdachtes Instrument, um junge Menschen zu erziehen statt zu zerstören. Wer heute als Jugendlicher einmal falsch abbiegt, soll die Möglichkeit haben, den Weg zurückzufinden – zum Nutzen der Gesellschaft.

 

 

Unterschied zwischen Jugendstrafrecht und Erwachsenenstrafrecht

Was ist der Unterschied zwischen Jugend­strafrecht und Erwachsenen­strafrecht?

Wenn von der Strafjustiz ein Verfahren in Gang gesetzt wird, wird geprüft, ob die beschuldigte Person ein Jugendlicher, ein Heranwachsender oder ein Erwachsener ist. Doch was ist der Grund hierfür?

Der gravierendste Unterschied ist der, dass im Jugendstrafrecht grundsätzlich der sogenannte „Erziehungsgedanke“ im Vordergrund steht, während es im Erwachsenenstrafrecht um die Tatschuld und vor allem auch um die Sühne der Tat geht. Die Straftat eines Jugendlichen wird als Ausdruck fehlender oder falscher bisheriger Entwicklung verstanden. Mit  den jugendstrafrechtlichen Sanktionsmöglichkeiten soll individuell angemessen auf den Entwicklungsstand des Täters reagiert werden. Dies bedeutet, dass das Jugendgericht eine geeignete Maßnahme zu finden hat, die dem jungen Täter hilft, seine Defizite auszugleichen, sich in die Gesellschaft zu integrieren und nicht wieder strafrechtlich in Erscheinung zu treten. Ein starrer Strafrahmen findet bei Jugendlichen keine Anwendung.

Bei Heranwachsenden (18 bis einschließlich 20 Jahre) wird geprüft, ob Jugendstrafrecht oder aber Erwachsenenstrafrecht anzuwenden ist. Gleicht der Heranwachsende in seiner Person oder seinem Handeln noch eher einem Jugendlichen soll mit den Mitteln des Jugendstrafrechts erzieherisch auf ihn eingewirkt werden. Ansonsten gilt das Erwachsenenstrafrecht.

Wir Strafverteidiger versuchen fast immer das Gericht zu überzeugen, das Jugendstrafrecht zur Anwendung zu bringen, da in aller Regel unsere Mandanten damit besser fahren.

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